Elisabeth Stadler
Im Dezember 1945 war nach den Kriegswirren im Frühjahr und dem Kriegsende wieder ein klein wenig Normalität eingekehrt. Die Kriegsschäden an den Häusern hatte man notdürftig ausgebessert und den Schutt weggeräumt. Im Herbst konnte man die Felder wieder bestellen.
Für mich hatte in diesen unmittelbaren Nachkriegstagen der Unterricht in der 1. Klasse begonnen und mein Glaube an das Christkind konnte bis dahin durch nichts erschüttert werden. Jedoch 1945 war alles anders und gewisse Bedenken befielen mich. Auf dem Kleiderkasten meiner Großmutter stand normalerweise das ganze Jahr über die Schachtel mit dem Christbaumschmuck, bis sie ein paar Tage vor Weihnachten auf geheimnisvolle Weise verschwand. Dann wusste ich, dass das Christkind die Schachtel geholt hatte, um den Baum zu schmücken. Aber heuer war alles anders. In den letzten Kriegstagen mussten wir uns vor den Angreifern verstecken, und als wir schließlich wieder in unsere Häuser zurückkehrten, lag unter vielen anderen kaputten Sachen die Schachtel mit dem Weihnachtsschmuck. Ihr Inhalt war nur mehr ein glitzernder Scherbenhaufen. Der Stern für die Spitze des Christbaumes verdankte seine Unversehrtheit der Tatsache, dass er aus Blech war. Weiters fand ich auch das Rotkäppchen, eine zarte Figur aus Papier mit einem glitzernden Röckchen, halbwegs heil, nur die Beine hatte es verloren, eine Kriegsinvalide eben. Meine Besorgnis, womit das Christkind heuer den Baum schmücken würde, war übergroß.
Ich beschloss, das Problem mit meinem Großvater zu besprechen. Er hatte stets ein offenes Ohr für meine kindlichen Sorgen. Großvater setzte sich auf die Holzkiste, nahm mich zwischen seine Knie, wie er es immer tat, wenn wir vernünftig miteinander redeten. „Opa“, fragte ich gleich bang, „wird das Christkind heuer kommen und wie wird das mit dem Christbaum sein, wenn wir keinen Schmuck haben?“ Der Großvater überlegte eine Weile, bevor er mich zu trösten begann. „Schau Kind, heuer ist alles anders, du hast ja gesehen, was alles kaputt gegangen ist und so geht es auch dem Christkind. Das ist heuer so arm, dass es nur wenige Kinder beschenken kann. Es gibt viele Kinder, die haben ihr Zuhause verloren, sie mussten fliehen oder Bomben haben ihr Haus zerstört. Wieder andere haben keine Eltern mehr und müssen in einem Heim leben. Da geht es dir doch besser, und ich fände es gerecht, wenn die ganz Armen bevorzugt werden“. Ich nickte heldenhaft, aber ganz überzeugt war ich nicht von Opas Aussagen. Mein Großvater sah mir das an und versuchte mich für eine Idee zu begeistern. „Wir könnten dem Christkind helfen, wenn du willst?“ Für etwas Neues war ich immer gleich zu haben.
„Nun, wir machen selber einen Christbaum, wir haben eine große Fichte im Garten, die gibt uns gerne ein paar Äste“. Gesagt, getan. Großvater schnitt mehrere passende Zweige ab, damit gingen wir zur Werkbank, wo ein alter Besenstiels als Stamm herhalten musste. Es wurden kleine Löcher in diesen Stamm gebohrt, und er wurde im Christbaumkreuz befestigt. In die kleinen Öffnungen wurden die Tannenzweige eingesetzt, so dass man sagen konnte, das Werk sah einem Christbaum ähnlich. In einer Tischlade lagen noch 2 Rollen Krepppapier in den Farben Rot und Weiß. Meine Mutter schnitt daraus Streifen, die für den Baum als Aufputz dienten. Großmutter, die immer für Überraschungen sorgte, steuerte zwei Kerzen mit Halterungen bei. Dann hatten wir ja noch den Stern und das Rotkäppchen, das immer seinen Platz unter dem Stern hatte. So gerüstet, konnte der Hl. Abend kommen.
In diesem Jahr gab es keine Krapferl (Kekse), denn Trude, unsere einzige Henne, konnte bei allem Fleiß im Eierlegen nur den normalen Bedarf decken. Am Hl. Abend gab es zu Mittag den traditionellen Apfelstrudel und für abends war eine Dose Sardinen aus einem CARE-Paket aufgespart worden. Meine Mutter hatte Nüsse und Äpfel aus unserem Garten gegen etwas Zuckermelasse eingetauscht, so gab es als besonderen Luxus einen süßen Melasse-Kuchen. Abends wurde unser Christbaum auf den Küchentisch gestellt. Von der prächtigen Grulicher Krippe[1] waren nur mehr Maria, Josef und ein Schaf mit drei Beinen vorhanden. Diese Figuren wurden unter den Baum gestellt. Dann konnte man die zwei Kerzen anzünden, und gemeinsam sangen wir „Stille Nacht“. Opa und Mama hatten schöne Stimmen, Oma summte nur leise mit.
Ein echter Luxus war das Radio, das aufgedreht wurde, denn einerseits gab es ausnahmsweise abends Strom, was nicht immer der Fall war, und andererseits hatte meine Familie den Volksempfänger (kleines Radio mit Gehäuse aus Bakelit) retten können. So konnten wir die Weihnachtsansprache unseres damaligen Bundeskanzlers, Ing. Figl, anhören. Der Empfang war denkbar schlecht, und wir mussten uns ganz nahe zum Radiogerät stellen. Meine Großmutter und meine Mutter hatten Tränen in den Augen; ich auch, aber eher wegen der armseligen Weihnacht und dem leeren Gabentisch. Als wir dann den Kuchen verzehrten, konnten wir dazu aus den verbliebenen Teegläsern Tee aus selbstgepflückten Kräutern trinken. Mein sehnlichster Wunsch war, dass nächstes Jahr alles wieder so würde, wie es früher war.
Der Großvater hielt sein Versprechen, denn 1946 kam das Christkind mit all dem Drumherum zu mir. Als das Weihnachtsglöckchen läutete und die Küchentür aufging, stand ein richtiger Christbaum auf dem Tisch. In dem bunten Zuckerpapier waren allerdings nur Würfelzucker versteckt, Nüsse hat man mit Stanniol umwickelt – so sah der Baum sehr prächtig aus. Zwei Glaskugeln hingen glitzernd im Geäst, eine davon habe ich heute noch. Der alte Stern schmückte den Wipfel und das Rotkäppchen lächelte von oben herab. Lametta-Fäden schimmerten im Schein der 7 Kerzen. Darunter lag eine Schultasche aus echtem Leder. Sie hat mich die ganze Schulzeit begleitet. Drinnen waren Hefte und ein Federpenal mit Bleistiften und Federn. Dazu noch allerlei, was man sonst in der Schule braucht. In einer Seitentasche steckte, zu meiner größten Überraschung, eine Tafel Schokolade. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen.
Eine Krippe gab es auch wieder, allerdings nur aus Papier. Unser Kaufmann hatte an seine Kunden Krippen-Ausschneide-Bögen verteilt, und ich durfte die Krippe noch am Vormittag basteln. Krapferl gab es wieder, denn von unserer Henne Trude und ihren Gefährtinnen haben wir mittlerweile genügend Eier bekommen. Und aus unseren Teegläsern duftete echter Russischer Tee. Wir gingen auch zur Kirche, denn es durfte wieder Mette gefeiert werden, allerdings schon um 19 Uhr, da man wegen der damals herrschenden Ausgangssperre um 21 Uhr daheim sein musste. Die Dorfbewohner standen nach dem Kirchgang noch kurz im Schnee, den es damals zu Weihnachten gab, beisammen und wünschten einander Frohe Weihnachten. Fünf tapfere Musikanten kamen mit ihren Instrumenten und kletterten im Turm zur Glockenstube hinauf, wo Platz genug war, denn die Glocken hatten ja im Krieg zur Herstellung von Kriegsmaterial abgeliefert werden müssen. Wir lauschten den vertrauten Klängen, die weit über die Felder und Weingärten hinaus tönten; „Oh du fröhliche, oh du selige Weihnachtszeit“.
[1] „Grulich – das heutige Králiky in Tschechien – liegt am Fuß des Adlergebirges in Nordböhmen. Im „Gulicher Ländchen“ entfaltete sich am Ende des 18. Jahrhunderts – nach dem Verbot der Aufstellung von Weihnachtskrippen in Kirchen durch Kaiser Joseph II – eine beachtliche Holzschnitzerei für den „Hausgebrauch“ in den Stuben des Bürgertums, der Handwerker und Bauern.
Bekannt sind die „Grulicher Mannln“ sowie die „Bringemannln“ als Gabenbringer mit symbolhaften Geschenken für das Jesuskind in der Krippe. Es gibt hunderte von Varianten, die sich teilweise durch grob geschnitzte Primitivität, teilweise durch verfeinertes Kunsthandwerk auszeichnen.
Die „Mannlmacher“ im holzreichen Adlergebirge waren meist Saisonarbeiter, die von Oktober bis März zuhause in ihren bescheidenen Wohnstuben an der Schnitzbank saßen und dann im Frühjahr als Handwerksburschen auf Wanderschaft gingen. Frauen und Kinder betätigten sich mit dem Bemalen der geschnitzten Figuren.
Schlechte Bezahlung und die aufkommende Industrialisierung führten Ende des 19. Jahrhunderts zum rapiden Niedergang der Grulicher Krippenschnitzerei.
Die Krippenfiguren wurden mit Vorliebe in sog. Kastenkrippen mit zum Teil phantastischen Stadtbildern von Bethlehem in Szene gesetzt. Deshalb sind Grulicher Krippen in dieser Form bis heute teilweise noch gut erhalten.“ Quelle: weihnachtskrippen-museum.de
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